Kellogg Insight - Eine neue Perspektive zur Armutsproblematik
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Marketing Social Impact Policy Sept. 1, 2010

Eine neue Perspektive zur Armutsproblematik

Marketing kann gegen soziale Missstände helfen

Based on the research of

Bobby J. Calder

Richard Kolsky

Maria Flores Letelier

Mit Milliarden von Menschen am unteren Ende der Einkommenspyramide—manche davon müssen von weniger als $2.50 pro Tag leben—ist das Armutsproblem ebenso weitverbreitet wie dringend. Es gibt beinahe so viele Pläne für eine Lösung dieses Problems wie es wohltätige Organisationen zur Bekämpfung der Armut gibt. Aber einer der jüngsten Lösungsansätze ist so grundverschieden, dass er eine wirkliche Chance bietet: Wie wäre es, wenn Armut statt eines gesellschaftlichen Problems als eine Marketingmöglichkeit interpretiert werden könnte? Bobby Calder und seine Kollegen sind der Ansicht, dass gerade dies der Schlüssel ist.

„Unternehmen gehen Probleme wie die Armut oftmals eher als gesellschaftliches Problem statt als Marketingmöglichkeit an“, so Calder, Professor für Marketing an der Kellogg School of Management, „aber das sogenannte untere Ende der Pyramide stellt eine enorme Marketingmöglichkeit für innovative, sozial engagierte Unternehmen dar.“

„Für eine Durchdringung derartiger Märkte sind keine revolutionären technischen Innovationen erforderlich, sondern neuartige Marketingansätze, die gesellschaftliche Probleme auf den Kopf stellen, indem sie Unternehmen ermöglichen, Geld zu verdienen, während sie das Leben der Armen verbessern und ihnen dabei helfen, einen Weg aus der Armut zu finden“, erläutern Calder und seine Mitverfasser Richard Kolsky, Dozent an der Kellogg School, und Maria Flores Letelier, Absolventin des MBA-Programms der Kellogg School.

Während der letzten zehn Jahre haben viele Unternehmen versucht, gesellschaftliche Probleme wie Armut anzugehen. Typischerweise nehmen derartige Initiativen die Form von CSR-Programmen (Corporate Social Responsibility—gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen) an. „CSR-Programme können viele verschiedene Formen annehmen, aber sie alle basieren auf dem Grundgedanken, durch Engagement vielin uneigennützige Initiativen Gutes zu tun und gleichzeitig Geld zu verdienen“, sagt Calder. Folglich werden CSR-Programme die meiste Zeit gewissermaßen aus der Distanz durchgeführt, indem gesellschaftlich wertvolle Initiativen wie beispielsweise dem Refresh Project von Pepsi Geld zur Verfügung gestellt werden. Seltener werden CSR-Praktiken in den Kerngeschäftsbetrieb eines Unternehmens integriert wie beispielsweise die Überprüfungen der Arbeitsbedingungen in ausländischen Vertragsfabriken6 durch Nike. In beiden Fällen laufen CSR-Programme neben dem eigentlichen Geschäft des Unternehmens her.

„Indem ein Unternehmen aber sein Geschäftsmodell ändert“, sagt Calder, „kann es CSR-Initiativen auf ein ganz neues Niveau bringen“, und Märkte erschließen, die bislang durch den hohen Produktpreis, die Herausforderungen an den Vertrieb oder andere Barrieren als schwierig oder gar unmöglich zu erschließen galten. Die meisten CSR-Programme werden von oben nach unten durchgeführt, das heißt, ein Unternehmen bietet eine standardisierte Lösung für ein gesellschaftliches Problem an, ohne sein Geschäftsmodell zu ändern. Aber durch die gezielte Vermarktung von Produkten an das untere Ende der Einkommenspyramide wie an jeden anderen vielversprechenden Sektor können Unternehmen neue Verbraucher gewinnen, was wiederum dem Unternehmen Gewinne ermöglicht und den Lebensstandard dieser Verbrauchergruppe verbessert.

Patrimonio Hoy
Cemex, ein mexikanischer Zementhersteller mit einer Marktkapitalisierung von 15 Milliarden US-Dollar, entwickelte ein innovatives CSR-Programm namens Patrimonio Hoy (Erbgut von heute). Das Programm hat die Aufgabe, den Wohnungsmangel in Mexiko—über 20 Millionen Menschen haben keine ausreichende Unterkunft—zu reduzieren und gleichzeitig die Umsätze von CEMEX zu erhöhen, indem in den städtischen Elendsvierten Mexikos die Nachfrage der Verbraucher nach Baumaterial angekurbelt wird. Die in diesen Elendsvierteln lebenden Familien können es sich im Allgemeinen nicht leisten, ein ganzes Haus auf einmal zu bauen. Stattdessen bauen sie ihr Eigenheim Stück für Stück, indem sie einzelne Zimmer anbauen.

Zuerst versuchte CEMEX, kleinere Zementsäcke als erschwinglichere Lösung für Familien mit niedrigem Einkommen anzubieten. Da dieses Produkt jedoch nicht auf Anklang stieß, erkannte CEMEX, dass statt neuer Produkte ein drastisches Umdenken im Geschäftsmodell angesagt war. Dieses Umdenken erforderte nicht nur die Lebensweise dieser Menschen zu verstehen, sondern auch ihre Vorstellung vom Hausbau zu begreifen. Über ein Jahr schlugen CEMEX-Mitarbeiter und -Berater im städtischen Elendsviertel von Mesa Colorado im Staat Jalisco ihr Lager auf, wo sie einen Tortillaladen in ein Gartenbüro umbauten und eine Reihe von Lernexperimenten und Tiefeninterviews8 durchführten.

Sie fanden heraus, dass eine wesentliche Barriere für den Häuserbau in diesem Gebiet war, ausreichend Geld für das gesamte erforderliche Material anzusparen. Die Familien erklärten, dass aufgrund der instabilen Beschäftigungslage in dieser Gegend langfristige Projekte schwierig waren. Sie wollten „das Schicksal lieber nicht herausfordern“ durch eine größere finanzielle Verpflichtung. Doch selbst wenn sie versuchten, Baumaterial zu kaufen, fehlte ihnen der Platz für die Lagerung. Diebstahl ist in solchen verarmten Vierteln an der Tagesordnung, und ungünstiges Wetter verdirbt Produkte oft, bevor sie verwendet werden können.

Zusätzlich gaben einige Anwohner zu, dass wenn sie größere Geldsummen wie beispielsweise die Jahresendzulage erhielten, sie das Geld lieber für Feierlichkeiten oder andere sofort zu realisierende, erfreuliche Dinge ausgeben haben.

Die schwierigste Hürde vor dem Hausbau schien jedoch ihre Ursache in den sehr tief  verwurzelten Werten dieser Menschen zu haben: Ihrer Gemeinschaftskultur. Entsprechend der traditionell großen Bedeutung der engen sozialen Beziehungen zwischen Mitgliedern der Großfamilie und der Freundeskreise dachten die Familien in erster Linie daran, ihr Geld für gesellschaftliche Aktivitäten statt für sich selbst auszugeben. CEMEX kam zu der Erkenntnis, dass dieses kulturelle Hindernis der Schlüssel dafür war, die Einstellung der Menschen zum Bau eines eigenen Hauses zu ändern.

Eine neue Perspektive zum Häuserbau
CEMEX erkannte, dass die Familien durch die praktischen und kulturellen Hindernisse vom Bau eigener Häuser abgehalten wurden, und änderte sein Geschäftsmodell entsprechend. Das Unternehmen setzte den Häuserbau mit dem Aufbau eines stabilen, langlebigen Familienerbes gleich, das von einer Generation an die nächste übergehen kann. Um das Gefühl einer Partnerschaft im Bauprozess zu schaffen, organisierte CEMEX Familien mit niedrigem Einkommen in sich selbst finanzierende Zellen, deren Mitglieder ihre Frustrationen und Erfolge mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft teilen konnten und gleichzeitig die sehr benötigte soziale Unterstützung erhielten. Zur Überwindung der praktischen Hürden implementierte CEMEX ein strukturiertes System, das den Familien Produkte und Fachwissen bereitstellte, um ihnen so einen schnellen Anbau eines weiteren Zimmers zu ermöglichen.

Die Teilnehmer am Programm Patrimonio Hoy zahlten etwa 14 Dollar pro Woche über einen Zeitraum von 70 Wochen. Dafür wurden sie von CEMEX-Architekten beraten und erhielten für jede Bauphase die entsprechenden Materiallieferungen. Die Preise des Baumaterials blieben für die gesamte Projektdauer stabil. Dies schützte die Kunden vor plötzlichen Preiserhöhungen und Lieferengpässen, wie sie auf dem freien Markt so häufig auftreten. Falls die Eigenleistung der Teilnehmer verringert werden musste,  konnten sie ihr Material in einem gesicherten CEMEX-Lager zwischenlagern. Die Kunden stellten fest, dass sie dank dieses Programms Häuser billiger und drei Mal so schnell bauen konnten, als sie es ohne diese Hilfestellung vermocht hätten. Bis jetzt haben über 70.000 mexikanische Familien ihre Bauprojekte abgeschlossen.

Der Erfolg von CEMEX lässt sich teilweise auf den neuartigen Ansatz des Unternehmens zurückführen. „Der Prozess beinhaltete ein vollständiges Eintauchen in die Gesellschaftskultur, sodass das Unternehmen die Bevölkerung anstatt von der Ferne sozusagen von innen heraus kennen- und verstehen lernen konnte“, sagt Calder. Die Eröffnung einer Zweigstelle im Zielmarkt brachte dann die Ursache des Scheiterns  herkömmlicher Marketingansätze ans Licht. Calder und seine Mitautoren kommen zu dem Schluss, dass Unternehmen ihre Produkte auch dem unteren Ende der Einkommenspyramide verkaufen, neue Märkte erschließen und neue Kunden gewinnen können, wenn Sie sich der Kultur und den Werten dieser Zielgruppe anpassen.

Featured Faculty

Professor Emeritus of Marketing; Director of the Center for Cultural Marketing

Adjunct Professor of Executive Education

About the Writer
Andrea Bonezzi is a doctoral student in marketing at the Kellogg School of Management.
About the Research

Calder, Bobby J., Richard Kolsky, and Maria Flores Letelier. 2010. Marketing to consumers at the bottom of the pyramid. Kellogg on Marketing, Second Edition. Alice M. Tybout and Bobby J. Calder, eds. Hobokken, NJ: John Wiley and Sons, Inc. [Buy the book]

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