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IBM Professor of Operations Management and Information Systems; Professor of Operations
Michael Meier
Als bekannt wurde, dass Volkswagen Abgastests manipuliert hatte, erinnerten sich Professor Sunil Chopra und die Doktorandin Keija Hu an Daten, die schon seit einiger Zeit auf ihren Computern schlummerten. Vielleicht – so dachten sie – waren daraus Schlüsse zu ziehen, warum ein Unternehmen wie Volkswagen eine so nicht nur auf den ersten Blick leichtfertige Entscheidung treffen konnte.
Chopra, Professor für Betriebswesen bei Kellogg, hatte diese Daten für ein anderes Projekt in Zusammenarbeit mit Hu genutzt. Als aber 2015 der Abgasskandal an die Öffentlichkeit gelangte, richteten beide ihr Augenmerk auf eine viel drängendere Frage: Warum riskiert ein Unternehmen wie die Volkswagen AG seinen Ruf und manipuliert die NOx-Emissionen von 11 Millionen Fahrzeugen?
Neuesten Erkenntnissen zufolge gehen intensiver Wettbewerb und strenge Maßstäbe, die wiederum mit hohen Kosten verbunden sind, mit der zunehmenden Wahrscheinlichkeit einher, dass sich Automobilhersteller gewisser Verfehlungen schuldig machen. Eine vorübergehende Herabsetzung der akzeptablen NOx-Standards hingegen – wie es die Europäische Union jetzt getan hat – bewirkt jedoch eher einen Rückgang derartiger Vergehen um bis zu 11 %.
Laut Forschungsergebnissen besteht bei staatlichen Aufsichtsbehörden in der Automobilbranche ein dringender Bedarf an besseren Überwachungsmodalitäten.
„Ist das Überwachungssystem fehlerhaft, kann eine Verschärfung der Emissionsgrenzwerte die Situation sogar verschlimmern“, so Chopra.
Die Ursprünge eines Abgasskandals
Wirtschaftswissenschafter haben festgestellt, dass mehr Konkurrenz auf dem Markt zu mehr Fehlverhalten führen kann. Eine Studie ergab zum Beispiel, dass die Gesundheitsprobleme von Transplantationspatienten in Krankenhäusern übertrieben dargestellt werden, wenn die Organnachfrage hoch ist.
Für Chopra und Hu scheint es daher absolut plausibel, dass Volkswagen zu unerlaubten Tricks greift, um konkurrenzfähig zu bleiben. Letztendlich ist die Einhaltung der Stickstoffgrenzwerte für Automobilhersteller mit hohen Kosten verbunden, denn Ingenieure und Forschungsteams wollen bezahlt werden. Aber eine Verbesserung der Emissionen schadet der Effizienz des Motors. Daraus folgerten Chopra und Hu, dass es für Autokäufer fast unmöglich sei, die Stickstoffemissionen ihrer Fahrzeuge zu überprüfen, und dass Automobilhersteller deswegen bereit seien, den Verbraucher in diesem Bereich zu täuschen, um hinsichtlich Preis und Motorleistung konkurrenzfähig zu bleiben.
Aber sie ahnten auch, dass ein harter Konkurrenzkampf nur die halbe Wahrheit ist.
Die Europäische Kommission, die die Einhaltung des Europarechts überwacht, hat die Stickstoffstandards zwischen 2000 und 2014 insgesamt viermal verschärft. „Wir wollten in Erfahrung bringen, ob sich eine Verschärfung der Standards auch auf das Fehlverhalten auswirkt“, so Chopra.
Theoretisch sollte eine Verschärfung von Standards, so die Annahme, aus zwei Gründen zu einer Zunahme von Verstößen gegen die geltenden Vorschriften führen: Die Erfüllung strengerer Standards ist mit höheren Kosten verbunden, und wenn die Kosten für die Erfüllung von Standards steigen, fallen die Sanktionen, wenn man erwischt wird, vergleichsweise milder aus. „Bei Betrug hat man einfach weniger zu verlieren“, meint Chopra.
Aber wird diese Hypothese auch durch die Daten aus der Praxis bestätigt?
Der richtige Datensatz
Vor dem Volkswagen-Skandal waren Chopra und Hu daran interessiert zu erfahren, wie die tatsächlichen Stickstoffemissionen mit der Verschärfung der Standards zu- und abnahmen. Zu diesem Zweck hatten sie von der Europäischen Union einen riesigen Satz mit Abgasdaten aus 13 Jahren angefordert.
Die Daten stammten von Sensoren im europäischen Straßennetz, die zwischen 2000 und 2012 die Geschwindigkeit, Beschleunigung, Fahrzeugmerkmale und Stickstoffemissionen von 288.350 Fahrzeugen gemessen hatten. Diese Angaben waren weitaus zuverlässiger als Daten von Fahrzeugen, die in Laboren getestet wurden, da Volkswagen Vorrichtungen installiert hatte, die erahnen konnten, wann ein Fahrzeug getestet wurde, und die das Fahrzeugverhalten entsprechend modifizierten.
„Wir hatten nie daran gedacht, die Daten in Zusammenhang mit Betrugsermittlung einzusetzen“, so Chopra. Zumindest bis zum Zeitpunkt des Abgasskandals.
Um die Auswirkung von Emissionsstandards und Marktwettbewerb verstehen zu können, entwickelten die Autoren verschiedene mathematische Modelle, welche die tatsächlichen Emissionen, den von den geltenden Standards gewährten Spielraum, Fahrzeugmerkmale, Preise und auch die Wettbewerbsintensität berücksichtigten.
Die Wettbewerbssituation wurde sowohl auf Branchenebene – durch die Berechnung des Kraftfahrzeugmarkts, den der Automobilhersteller kontrollierte – als auch auf Fahrzeugebene analysiert – durch eine Zählung ähnlicher Modelle, für die sich ein Käufer als Alternative zu einem bestimmten Modell entscheiden konnte.
Unternehmerisches Fehlverhalten als Modell
Anhand der Modelle konnten die Hypothese der Autoren bestätigt werden, dass ein harter Wettbewerb zu mehr Betrugsversuchen führt. Aber sie erkannten interessanterweise auch, dass eine Verschärfung der Standards eine noch größere Rolle spielte: Für jeden Prozentpunkt, um den die Standards verschärft wurden, stieg die Wahrscheinlichkeit für Vergehen um 1,72 %.
„Auch wenn man die unterschiedlichen Wettbewerbsebenen addiert, d. h. Fahrzeugmodelle und Marktsituation, schlagen sich die Auswirkungen einer Verschärfung der Standards fast doppelt so hoch nieder“, meint Chopra.
Und nicht alle Fahrzeuge waren hier gleich betroffen. Dem Modell zufolge investierten Automobilhersteller in die Erfüllung von Standards bei teureren Fahrzeugen mit Gewinnspannen, die die entsprechenden Kosten rechtfertigten, aber auch bei leistungsschwächeren Fahrzeugen, deren Käufer sich wahrscheinlich weniger Gedanken um den Verlust von PS und Beschleunigung machten.
„Wo auch immer es sinnvoll war, die Emissionen zu reduzieren, wurde das auch gemacht“, so Chopra. „Aber Standards und Auflagen wurden missachtet, wenn das zu überhöhten Gewinneinbußen führen oder der Kunde nicht mitmachen würde, weil ihm die Fahrzeugleistung wirklich wichtig war.“
Eine kontraintuitive Lösung
In der Zeit nach dem Volkswagen-Skandal beschlossen EU-Entscheidungsträger, die akzeptablen Stickstoffgrenzen zu verdoppeln – eine kontraintuitive Lösung, die von manchen als ein Kuschen der Aufsichtsbehörden vor genau der Branche empfunden wurde, die sie eigentlich überwachen sollten. (Die USA, deren Stickstoffgrenzwerte wesentlich strenger sind als die der EU, hat ihre Standards bisher nicht zurückgerollt.)
Aber Chopra und Hu sehen dieses Verhalten nicht als Kuschen. Als diese ihr Modell erneut und mit den neuen Grenzwerten fütterten, erkannten sie, dass sich Automobilhersteller mehr Mühe geben, die niedrigeren Werte einzuhalten, was kurzfristig zu einem Rückgang der Manipulationen um 9-11 % führt.
Aber diese Lösung ist kurzlebig. Denn sobald die Aufsichtsbehörden eine Methode finden, um Manipulationen aufzudecken, so Chopra, könnte erneut eine Verschärfung der Standards anstehen. Und somit kommen wir zu einer weiteren wichtigen Lektion aus dieser Untersuchung: Wenn Standards bestimmungsgemäß funktionieren sollen, muss mit ihnen die Wahrscheinlichkeit steigen, dass ein Automobilhersteller bei einer Manipulation mit Sanktionen rechnen muss, was wiederum bedeutet, dass die Überwachung verbessert werden muss. Die EU hat bereits die entsprechenden Schritte veranlasst und neue Emissionstests eingeführt, mit denen eine Täuschung der Inspektoren – wie es Volkswagen getan hat – verhindert werden soll.
Das ist ein vielversprechender Anfang. Aber Chopra betont, dass die Aufsichtsbehörden der Branche jedes Jahr einen Schritt voraus bleiben müssen. „Es hat keinen Zweck, die Standards zu verschärfen, wenn Überwachung und Durchsetzung nicht mithalten können“, so Chopra.
Sympathien für den Betrüger?
Man könnte diese Recherchen als den Versuch deuten, Volkswagen insofern in Schutz zu nehmen, als habe ein rational handelndes Unternehmen in einer stark wettbewerbsorientierten und überregulierten Branche mit Logik auf starke Inzentive reagiert hat.
Würden andere Unternehmen in derselben Situation, in der sie einerseits durch enge Vorschriften eingeschränkt und andererseits von der Notwendigkeit getrieben sind, die Konkurrenz auszustechen, ebenso Betrug und Manipulation als einzigen Ausweg sehen?
Chopra glaubt es nicht. „Anstatt mit Anstand zu scheitern, sah Volkswagen in der unvollkommenen Überwachung eine Chance, sich einen Vorteil zu verschaffen“, argumentiert er.
„Dafür habe ich kein Verständnis.“